Newsletter 09/22
Raus aus der Insolvenz mit Geschäftsmodellwechsel – der Fall Tetenal
Für die neue Tetenal eröffnete Peter E. Rasenberger auf einer Etage im teils verlassenen wirkenden Betriebsgebäude das „Grantiro Zukunftsbüro“. In der Spitze hatten rund 400 Beschäftigte für das Unternehmen gearbeitet, vor der Insolvenz noch knapp 120 und schließlich nur noch 40 Menschen. Doch die verbliebenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sprühten vor Tatendrang, um ihr Unternehmen zu retten. „Kein Stein soll auf dem anderen bleiben“ lautete die Devise bei der Neuorientierung, die aber auch geprägt war von der Rückbesinnung auf alte Stärken und (Erfolgs-)Formeln. Der Ideenreichtum der Tetenaler hat den Berater sichtlich beeindruckt, denn trotz der Turbulenzen im Tagesgeschäft und trotz ungewisser Zukunft entwickelten Teilnehmer in Workshops und unter hohem Tempo mit großem Veränderungswillen am Ende mehr als 30 innovative Ideen für neue Geschäftsmodelle. Dazu zählt ein Starterkit aus Fotoapparat und Mini-Fotolabor, das Liebhaber in den Metropolen der Welt ansprechen soll.
Die Renaissance der analogen Fotografie in jungen und urbanen Zielgruppen zählt nämlich ebenso zu den globalen Trends wie begeistertes Polaroid-Foto-Schießen in Asien oder die Rückkehr von Schallplatten bei Hörgenuss-Fans. Und was Laien über den Profibereich kaum wissen dürften: Viele der für Oscars nominierten Filme werden noch immer analog gedreht. Aber auch bei großen Negativen etwa für historische Luftaufnahmen bombardierter Städte oder bei Röntgenbildern erkrankter Menschen ist auf diese traditionelle Machart die Qualität eher zu erzielen. Damit das operative Geschäft auch gesellschaftsrechtlich in neue Bahnen gelenkt werden, konnte Insolvenzverwalter Sven-Holger Undritz schließlich „wesentliche Vermögensgegenstände“ der Tetenal Europe GmbH an die neue Gesellschaft verkaufen, die vom beseelten Gründergeist der Mitarbeitenden getragen wurde. Die Unternehmensführung der neuen Gesellschaft Tetenal 1847 übernahmen der langjährige Vertriebschef Carsten Gehring als kaufmännischer Geschäftsführer und die noch junge Produktionsleiterin Stefania Grimme als technische Geschäftsführerin.
„Wenn wir die Marketing-Blase der Restrukturierungsindustrie für einen Moment zur Seite schieben, erkennen wir: Sanierung und Transformation sind grundlegend unterschiedliche Konzepte.“
Peter E. Rasenberger und Carsten Gehring
Eigene Tetenal-Tochtergesellschaften sollten darüber hinaus damals für weitere Geschäftsideen gegründet werden: Die Wertschöpfung reicht dabei von A wie Anlagen für Biotech-Energie bis Z wie Zucht in Aquakulturen. So sind Stoffe aus der Fotochemie auch bedenkenlos nutzbar, um von Kod verunreinigte Forellen- oder Shrimpsbecken sauber zu halten. Aus dem daraus gewonnenen Gemisch sind widerum Spurenelemente zu gewinnen, die in Biogasanlagen bestens funktionieren, wo Abwärme entsteht die umgekehrt der Fischzucht dienen kann. Der Fall zeigt also auch, wie vielseitige Produkte das Traditionsunternehmen hervorbringen kann, das im Jahr 1847 in Berlin von Theodor Teichgräber aus der Taufe gehoben wurde und ursprünglich als Drogeriegroßhandel begann. Eine Transformation erlebt Tetenal also genauso nicht zum ersten Mal wie einen Turnaround, denn nach dem Umzug von Berlin nach Hamburg ging die Firma 1926 schon einmal in Konkurs. Die erneute Insolvenz in 2018 schien das endgültige Ende zu besiegeln, bis sich jedoch die Mitarbeiterinitiative formierte. Beim Turnaroundkongress wird das Duo Gehring/Rasenberger vier Jahre nach Wende und Neupositionierung auch eine erste Erfolgsbilanz ziehen.